KATHRINA BOOD

 

Ein Ritter auf dem Turmberg

 

Kellin lag, vor Nässe und Kälte zitternd, im Dunkel und sah erschaudernd zu, wie im feuchten Laub die Glut seines Feuers starb, wie im bröckelnden Kamin eine Flamme den letzten Rest trockener Zweige, Äste verzehrte. Sein kostbarer Holzvorrat war längst erschöpft, und jetzt, da diese Nacht voll Schnee und Regen erst zur Hälfte vorüber war, wusste er nur, dass er hier langsam erfrieren würde.

Die Decke bis über die Nase hochgezogen, ließ er den Blick seiner haselnussbraunen Augen durch das bloß schwach erhellte Turmzimmer wandern: Zerbrochene Möbel, Scherben und modrige Fetzen von Vorhängen und Gobelins lagen in der Ruine dessen verstreut, was wohl einmal ein Schlafgemach gewesen. Schutt und verwesendes Laub, Vogelfedern und Vogelkot bedeckten die Fliesen – und in einer Ecke lag etwas, was darauf schließen ließ, dass der Raum einem riesigen Raubtier als Höhle gedient hatte: ein zerschmettertes Möbelstück, von einem Gewirr tiefster Krallenspuren überzogen. Kellin hatte flüchtig daran gedacht, all das Zeug ins Feuer zu werfen; aber etwas an diesem Ort hatte ihn an der Ausführung seines Gedankens gehindert. Er wusste, dass er aufstehen und hin und her gehen sollte, damit das Blut in seinen Adern wieder zirkulierte … Aber es ging nicht; seinen bleiernen Gliedern fehlte die Kraft und seinem Geist der Wille. Die Kälte hatte mit seiner Körperwärme auch seine Entschlusskraft genommen.

Er schloss die Augen, ließ seinen Geist durch eiskalte Leeren wandern. Schlaf, dachte er, und mit dem Schlaf käme der Tod. Aber bei dem Gedanken öffnete er doch wieder die Augen, nahm alle Kraft zusammen, die ihm verblieben war, und zwang sich auf die Beine. Erst taumelte er etwas, war ihm so schwindlig von der plötzlichen Blutleere im Gehirn. Aber bald fing er sich, legte die Rüstung ab, warf sich Umhang und Decke um die Schultern.

Langsam ging er sodann in dem seltsamen Raum hin und her und betrachtete den Schutt und den Plunder und fing schließlich an, darin herumzuwühlen. Er kam sich fast wie ein Plünderer vor. Aber es war doch wenigstens so eine Art Beschäftigung. Etwas, was Geist und Körper wach und in Bewegung hielt.

So besah sich der Ritter merkwürdige Gegenstände, drehte, wendete sie in Händen … Wenn die Augen ihm bei dem kargen Licht den Dienst versagten, übernahmen es die Finger, die Schnitzwerke wurmstichiger Möbel, die Knüpfmuster verrottender Läufer zu erkunden … Nun fuhr wieder ein Windstoß durch die Risse der Eichentür, die bloß noch an einer der bronzenen Angeln hing, und ließ sie wanken, schwanken, stob weiter durch den Raum, trieb welkes Laub vor sich her und teilte den Staub all der Jahre wie ein Boot das Meer. Kellin beobachtete das Spiel des Windes – bis ein metallisches Glänzen in einem wirren Laubhaufen im hintersten Winkel seinen Blick auf sich zog …

Da ließ ihn ein Geräusch erstarren … ein Laut, nur schwach vernehmlich, von etwas, das gerade noch in Hörweite war. Er hielt den Atem an, horchte angestrengt. Über das Heulen des Windes hin drang das Klirren von Zaumzeug in sein Ohr. Jahrelanges Training und alter Instinkt ließen ihn da alle Schwächen des Fleisches und Geistes vergessen … Im Nu lag das glatte, mit Leder umwickelte Heft des Schwertes in seiner Hand, lehnte er mit dem Rücken an der Wand neben der Tür. Während lange Momente vergingen, kam das Geräusch, wenn auch ab und an vom Wind unterbrochen, näher, näher – bis es endlich vor der Tür angelangt zu sein schien. Einen Atemzug lang Ruhe, dann erzitterte die Eichentür, ging ächzend auf. Auf der Schwelle stand, an den verzogenen Türrahmen gelehnt, eine dunkle Gestalt. Wie lauschend stand sie da.

Kellin zögerte noch mit dem Angriff, wartete ab. Dann sprach eine Stimme zu ihm, ein sanftes Flüstern tief in ihm. Und es sagte ihm, er habe von dem Fremden nichts zu befürchten. So hielt er sein Schwert ruhig und rührte sich nicht.

Das Gesicht des Fremden war im Licht seines niedergebrannten Feuers nicht auszumachen – bloß seine Silhouette, als Dunkel gegen Dunkel … Und nach dieser Andeutung von einem Umriss zu urteilen, trug er einen Umhang, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Da drehte er sich um, verschwand in dem Schneesturm – um kurz darauf wieder zu erscheinen, nun mit einem großen, dunklen Pferd, das er sogleich hereinführte. Und es war kaum drin, da ließ er den Zügel fallen, machte kehrt, um die Tür wieder zuzusperren. Und erstarrte, als er gewahr wurde, dass da jemand stand, griff an seine Seite, wo ein Schwert so silbern glänzte.

»Wer ist da?«, hörte Kellin eine Frau fragen. Weich und sanft sprach sie, etwas singend auch, die Wortenden betonend – ein Dialekt, der ihm nicht vertraut war.

Da trat er aus dem Schatten der Tür und steckte demonstrativ sein Schwert ein. Und die Stimme in ihm sprach mit der Ruhe, Beständigkeit eines Bergbachs: Gefahr gehe nicht einher mit der da, ihr Begleiter sei ein stiller, wachsender Schmerz.

»Kellin, hohe Frau«, stellte er sich sodann vor. »Sir Kellin Whrothwyn. Ritter von Burg Shanizar. Du hast von mir nichts zu fürchten. Ich suchte hier bloß Schutz vor dem Sturm. Mit Verlaub, es ist genug Platz für dich und dein Pferd! Leider kann ich dir nichts zu essen anbieten.« Es war ja Brauch im Land Merzen, mit Fremden, denen man den Frieden des Lagers anbot, Brot und Salz zu teilen … Kellin konnte nicht einmal Reiserationen anbieten. Das kränkte seine Ehre so wie seinen Stolz. Sein Pferd hatte er beim Durchqueren eines von enormen Frühjahrsregen geschwollenen Stroms verloren: Eine Flutwelle hatte es fortgerissen, und mit ihm seine gesamte Wegzehrung. Dass er, mit seiner schweren Rüstung, da nicht ertrunken war, verdankte er nur seinem Glück und der Gunst der Götter! Die Fremde zögerte, sein Angebot anzunehmen, sah sich, unter der Kapuze hervor, erst nach ihrem Pferd und dann nach dem Sturm um, der draußen heulte und tobte, und nickte nun knapp, kaum merklich. Doch ehe sie ihre Waffe einsteckte, prüfte sie ihn und das Turmgemach kurz mit scharfem Blick: Sie nahm ihn bei der Ehre … Ihr Leben hing an den wenigen förmlichen Worten, die er gesprochen hatte.

»Darf ich erfahren, wie du heißt?«, fragte er.

»Moija«, sagte sie, mehr nicht – keine Titel, keine Angaben zu Herkunft, Haus. Kellin wiederholte ihren Namen bei sich, prüfte ihn auf der Zunge. Ein Name aus ihrer alten Sprache – aber nicht unkenntlich alt.

»Brauchst du Hilfe mit deinem Pferd?«

»Nein«, war alles, was sie sagte, und sie nahm bereits die Handgriffe vor. Zuerst lud sie irgendein Bündel aus ihrer Satteltasche ab und ging damit zum armseligen Feuer. Es war nicht zu sehen, was es war – aber einen Moment später tanzten die Flammen schon mit neuer Kraft, zuckten lange Schatten von Mensch, Tier und Gerümpel über die nackten Wände. Darauf kümmerte sie sich um ihr Pferd und gab sich große Mühe für sein Wohlergehen, ehe sie sich ihr Lager bereitete.

»Prachtvolles Tier …«, bemerkte Kellin. »Aus dem Condartal, nicht? Linie Daggnar?«

Sie hielt mit der Suche inne, lange genug, um zu ihrer Stute hochzublicken. »Daggnar, ja«, erwiderte sie dann, mit einem Anflug von Stolz in der Stimme. Und darauf förderte sie aus ihrem Sack zwei runde, flache Brote und einen kleinen runden Weichkäse zutage, teilte beides nach alter Sitte und reichte ihm mit schwarz behandschuhter Hand eine Hälfte. Der Ritter nahm die karge Speise mit tief empfundenem Dank entgegen und verschlang sie im Nu. Es war seine erste wirkliche Mahlzeit seit zwei Tagen … die unreifen Beeren und rohen Wurzeln und Knollen, die zählten ja nicht.

Moija setzte sich auf den Boden und schob bei ihrer Suche nach einer bequemen Stellung die Kapuze zurück. Dadurch wurde im goldenen Feuerlicht ein fein geschnittenes Gesicht mit einer kühnen Adlernase sichtbar. Zwei Strähnen ihres walnussbraunen Haares, dem wohl hastig geflochtenen Zopf entkommen, hingen ihr ins Gesicht; die steckte sie sich beim Essen hinter die Ohren. Die dunklen Augen, deren Farbe Kellin nicht erkannte, erwiderten seine Blicke mit gleicher Intensität … Da legte sie ihr Cape ab, breitete es zum Trocknen auf dem Boden aus. Ihr Harnisch, der da sichtbar war, war nicht der in Merzen gängige schwere Schuppenpanzer, sondern ein Kettenwerk so fein gewirkt, dass es fast wie derbe Strickware aussah. Ihre Schienbeine und die Knie wurden von schweren Schienen aus zweilagigem, metallbeschlagenem Formleder geschützt; Schultern und Brust wurden vom selben Material umgeben. Nur der silberne Armschützer, den sie trug, war geschuppt.

»Was führt dich nach Tell’Sakera?«, fragte sie da ruhig – die ersten Worte, die sie von sich aus äußerte.

»Tell’Sakera?«

Sie nickte. »Der Ort, an dem du dich befindest, das ist Tell’Sakera«, erwiderte sie, den Namen betonend, als ob er für ihn tiefere Bedeutung haben müsste.

Kellin schüttelte erstaunt den Kopf. »Ich kenne ihn nur als ›Turmberg‹. Von Tell’Sakera ist mir nichts bekannt. Turmberg heißt die Feste, seit sie Ruine ist und in Trümmern liegt.«

Die Frau fuhr zurück und runzelte die Stirn. »Ruine«, sagte sie. Ein Flüstern nur. Und Kellin schien es, als ob sie nun erst des Zustands ihrer Umgebung gewahr würde, nun erst die bröckelnden Mauern sähe, das durchhängende Dach über ihnen.

»Wie lange ist das schon her?«, fragte sie, nur sich selbst und so leise, dass er sich nicht sicher war, ob sie überhaupt etwas gesagt hatte. Dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihn, fragte, mit schmalem Blick: »Aus welcher Stadt, sagtest du, bist du?«

» Shanizar.«

»Davon habe ich noch nie gehört.«

Kellin wiegte den Kopf. Jetzt war er sich sicher, dass diese Frau nicht nur von einem anderen Ort, sondern auch aus einer anderen Zeit war. Das war ja die einzig sinnvolle Erklärung. Shanizar war die Hauptstadt von Merzen, das Zentrum allen Handels, Wandels und Wohlstands … Selbst die Wildleute, ein Volk, das in den tiefsten Wäldern Merzens hauste, kannten Shanizar, und sei es nur dem Namen nach. Diese Frau sah wie durch den Schleier des Traums auf Turmberg und sah es nicht, wie es war, sondern so, wie es einmal gewesen … Und er warf einen Blick auf ihren Sattel, der gerade noch im Lichtkreis des Feuers lag. Sättel wie diesen kannte er nur von uralten, so gut wie verblassten Gobelins!

Und so erzählte er ihr von Shanizar, vom Treiben und Tun in jener großen Handelsstadt. Ungläubiges Staunen und Befremden malten sich da in ihrem Gesicht.

»Und die Ruinen am Fuß des Berges, unten im Tal, wie heißen die?«, fragte sie. Ihr Geist war wach und wie eine Viper, schnellte vor und zurück, von Frage zu Frage, verweilte nie zu lange bei einer Sache. Aber mit der Hand im schwarzen Lederhandschuh umklammerte sie den Griff ihrer Klinge, als ob sie sich an etwas Sicherem und Vertrautem festhalten wollte. Also wappnete sie sich für eine Antwort, die sie nicht hören wollte – die aber unausweichlich war.

»Weißstein.«

»Scareshia«, sprach sie, wie um ihn zu verbessern. »Bei uns hieß der Ort ›Scareshia‹. Jetzt erinnere ich mich wieder. Ich suchte etwas. Suchte …« Ihre Stimme wurde so tonlos, leise. »Aber ich komme zu spät.« Mit einem Kopfschütteln holte sie ihren wandernden Geist wieder in die Gegenwart zurück. »Die Einwohner nannten es ›Scareshia‹. Das bedeutet ›Talheim‹ in der alten Sprache. Als Volk hießen sie ›Wildleute‹. Wir aus Tell’Sakera und die aus dem Tal lebten viele Jahrhunderte in Frieden miteinander.«

Wir aus Tell’Sakera? Was Wunder, dass sie so verstört gewirkt hatte! Dieser Ort, oder was er einst gewesen, war ihr Heimat gewesen.

»Tell’Sakera war mit reichen Vorkommen an Erz gesegnet, das wir zu Waffen und Rüstungen verarbeiteten.«

Kellin ging ein Licht auf. Sakeraner Stahl! Sein Urahn hatte immer von diesem Material geschwärmt, seiner Leichtheit und Härte und Zähigkeit. Auch wenn manche gespottet hatten, das sei nur seniles Gerede. Selbst er, Kellin, hatte nicht recht glauben wollen, dass die Waffen aus Sakeraner Stahl nur halb so viel wogen und doch genauso scharf und fest und beständig waren wie die aus gewöhnlichem Stahl.

»Diese Waffen und Rüstungen gingen nach Scareshia hinab und wurden von dort mit Karawanen in alle Teile des Königreichs verbracht und gut verkauft. Tell’Sakera und Scareshia waren sozusagen Geschäftspartner. Aber diese Wildleute waren ein argwöhnisches Volk, trauten keinem von außerhalb ihres Tals. Sogar uns, die wir ihnen solchen Profit brachten, misstrauten sie«, sagte sie, tonlos, abwesend, Erinnerungen nachhängend, sah dabei mit Augen, die nichts sahen, ins Feuer. Wenn sie sprach, wurde sie bisweilen leiser und verstummte gar ganz, bis sie sich seiner Anwesenheit wieder bewusst wurde und ihre Erzählung da wieder aufnahm, wo sie sie abgebrochen hatte.

»Der Argwohn der Wildleute verlor endlich jedes Maß. Hatten wir einst zivilisiert kooperiert, sandten sie nun bewaffnete Eskorten zur Burg, diese Ware zu holen. Eines Tages erschien ein Bote auf Tell’Sakera, mit einem geharnischten Brief des Königs von Scareshia. Der bezichtigte uns des Bruchs unseres Handelsvertrags, wonach Tell’Sakera alles, was es hatte, mit seinen Brüdern im Tal teilen müsse. Aber wir, behauptete er, hielten einen Schatz vor ihnen versteckt, ganz tief im Berg verborgen. Einen Schatz von lauter Gold und Edelsteinen. Und er forderte die sofortige Herausgabe des Hortes, anderenfalls er diese Burg mit aller Macht belagern und mit Gewalt nehmen werde.« Hier nun verstummte sie wieder, aber dieses Mal, um ihre Tränen zu unterdrücken.

»Mein Vater«, fuhr sie dann fort, »schrieb ihm zur Antwort: Wenn es diesen Schatz wirklich gäbe, würden wir ihn gern mit ihnen teilen … Die Wildleute waren außer sich vor Wut. Beim nächsten Morgengrauen stand ihre Armee unter den Mauern von Tell’Sakera, waren wir ganz und gar eingeschlossen.« Wieder verstummte sie, dass nur noch das Knistern des Feuers und das Heulen des Sturmes zu hören waren. Plötzlich fielen im Kamin brennende Scheite zusammen, dass die Funken stoben … Und es vergingen ein paar Minuten, bis Moija das Feuer geschürt und versorgt hatte, sodass sie ihre Erzählung wieder aufnehmen konnte.

»Einen ganzen Mond lang hielten wir diesen Angriffen stand. Aber wir waren nicht auf eine solche Belagerung vorbereitet … Tell’Sakera war für gut ein Jahrhundert vom Krieg verschont geblieben, und so waren wir, die alle Werkzeuge des Krieges fertigten, für einen Krieg nicht gerüstet …« Ein karges Lächeln über die Ironie des Schicksals verzog ihr die Mundwinkel. »Tell’Sakera fiel, aber nicht aus Schwäche, vielmehr aus Mangel an Kampfwillen. Ach, die Wildleute töteten, wessen sie habhaft wurden, und die Erde Tell’Sakeras färbte sich rot vor Blut. Sie ließen nur eine einzige Menschenseele am Leben«, seufzte sie und biss sich auf die bebenden Lippen, dass es ihn drängte, ihr die Hand auf die Hand zu legen, um sie irgendwie zu trösten. Aber das, das wusste er, konnte nichts und niemand. So ließ er sie sich ihrer Pein auf die einzig ihr mögliche Art stellen: allein.

»Nur eine, damit die sie zum Hort führe. Das tat ich denn … Ich führte sie zu dem einzigen mir bekannten Schatz, der das Leben meines Volkes wert gewesen sein konnte«, sagte sie und fuhr dann fort, als ob sie einem Freund, der das Gebiet gut kannte, den Weg beschrieb:

»Den Gartenweg entlang, zu dem großen Stein auf der Leeseite der hohen Eiche. Ich drehte den Stein um und gab ihnen, was darunter lag. Sie lachten, als sie das Buch sahen, und schlugen mich dann, als ich sagte, das sei der Schatz, nach dem sie suchten. Ihr Hauptmann öffnete es und las laut daraus vor … und dann ließen sie mich gehen.«

Kellin zwinkerte heftig. »Sie ließen dich gehen? Nach all dem?« Da nickte Moija und fuhr sich mit der behandschuhten Rechten über die Augen.

»Aber was stand denn in dem Buch?«

»Es …«, begann die Fremde und sprang auf. »Ich muss jetzt gehen. Ich muss es suchen.«

Kellin erhob sich rasch, fasste sie am Arm und fragte: »Aber wohin? Du kannst nicht einfach …«

Doch sie riss sich so los, dass es ihm die Sprache verschlug, stieß ihn zurück und rief: »Nein! Keine Zeit mehr für Geschichten. Bloß das Buch zählt. Wenn ich es finde, vielleicht …« Sie führte den Satz nicht zu Ende, machte sich nur daran, hastig ihr Pferd zu satteln. Kellin versuchte nicht, sie aufzuhalten. Diese Heftigkeit in ihrer Miene sagte ihm, dass er eine neuerliche Einmischung ja womöglich nicht einmal mehr bereuen könnte! Erst als sie die Tür aufgestemmt hatte, tat er den Mund auf: »Was stand in dem Buch?«

Moija hielt auf der Schwelle inne, und der Wind ließ ihr das Haar und den Umhangsaum fliegen … »Die Wahrheit«, versetzte sie und ging in den Sturm hinaus.

 

Kellin saß mit dem Rücken zum Feuer, so nah bei den Flammen, dass ihm unter seinem Cape die Haut brannte. Eine Stunde war die Frau schon fort. War sie denn überhaupt da gewesen? Die Fußspuren im Staub und die weißen Schrammen, die die Hufeisen der Stute hinterlassen hatten, waren Beweis genug. Und doch kam ihm alles wie ein langer Traum vor.

Der Sturm war vorüber, nun sickerte goldenes Licht durch den Spalt zwischen der verzogenen Tür und dem Rahmen: Der Morgen war endlich da. Kellin rappelte sich mühsam hoch, ging etwas benommen zur Tür. Ein wenig frische Luft würde ihm gut tun! Aber da zog ein metallisches Glänzen aus einem Laubhaufen im hintersten Eck seinen Blick auf sich, und er ging geradewegs darauf zu. Déjà-vu. Eben das hatte er doch tun wollen, bevor diese Fremde kam.

Rasch kniete der Ritter sich hin und scharrte totes Laub und alten Plunder beiseite, und da kam unter seinen Händen altes Leder zum Vorschein – der Einband eines Buches mit schweren Stahlschließen, aber ohne jede Beschriftung oder Verzierung. Vorsichtig schlug er es vorn auf. Gelb vom Alter waren diese wenigen Seiten, die es noch besaß, und die Ecken so brüchig, dass sie ihm beim Umblättern unter den Fingern zerfielen. War das das Buch, nach dem die Fremde gesucht hatte? Etwas darin bestärkte ihn in seiner Vermutung und Annahme.

So nahm er den Folianten, um ihn beim Feuerschein zu lesen. Mit all der Behutsamkeit, die der delikate Zustand des Werks gebot, öffnete er es, beugte sich über den uralten Text, der da in verblasster Tinte, aber immer noch gängiger Sprache geschrieben stand. Und nach kurzem Räuspern las er laut:

»So steht geschrieben, Frieden herrsche unter den Menschen, alldieweil Frieden von allen Schätzen der größte …«

Da verstand er auch, was sie mit ihrer Antwort, in dem Buch stehe die Wahrheit, gemeint hatte. Frieden war das hohe Gut, der Schatz, für den die Wildleute getötet hatten. Und darum lebten sie wohl auch nun so tief in den Wäldern: aus Scham, um ihre Schande vor den Augen der Welt zu verbergen. Moija würde es aber nicht mehr erfahren. Also schloss er sacht das Buch und hob zu weinen an.

Silberschwester - 14
titlepage.xhtml
Zimmer Bradley, Marion (Hrsg.) - Magische Geschichten 14 - Silberschwester_L2_split_000.htm
Zimmer Bradley, Marion (Hrsg.) - Magische Geschichten 14 - Silberschwester_L2_split_001.htm
Zimmer Bradley, Marion (Hrsg.) - Magische Geschichten 14 - Silberschwester_L2_split_002.htm
Zimmer Bradley, Marion (Hrsg.) - Magische Geschichten 14 - Silberschwester_L2_split_003.htm
Zimmer Bradley, Marion (Hrsg.) - Magische Geschichten 14 - Silberschwester_L2_split_004.htm
Zimmer Bradley, Marion (Hrsg.) - Magische Geschichten 14 - Silberschwester_L2_split_005.htm
Zimmer Bradley, Marion (Hrsg.) - Magische Geschichten 14 - Silberschwester_L2_split_006.htm
Zimmer Bradley, Marion (Hrsg.) - Magische Geschichten 14 - Silberschwester_L2_split_007.htm
Zimmer Bradley, Marion (Hrsg.) - Magische Geschichten 14 - Silberschwester_L2_split_008.htm
Zimmer Bradley, Marion (Hrsg.) - Magische Geschichten 14 - Silberschwester_L2_split_009.htm
Zimmer Bradley, Marion (Hrsg.) - Magische Geschichten 14 - Silberschwester_L2_split_010.htm
Zimmer Bradley, Marion (Hrsg.) - Magische Geschichten 14 - Silberschwester_L2_split_011.htm
Zimmer Bradley, Marion (Hrsg.) - Magische Geschichten 14 - Silberschwester_L2_split_012.htm
Zimmer Bradley, Marion (Hrsg.) - Magische Geschichten 14 - Silberschwester_L2_split_013.htm
Zimmer Bradley, Marion (Hrsg.) - Magische Geschichten 14 - Silberschwester_L2_split_014.htm
Zimmer Bradley, Marion (Hrsg.) - Magische Geschichten 14 - Silberschwester_L2_split_015.htm
Zimmer Bradley, Marion (Hrsg.) - Magische Geschichten 14 - Silberschwester_L2_split_016.htm
Zimmer Bradley, Marion (Hrsg.) - Magische Geschichten 14 - Silberschwester_L2_split_017.htm
Zimmer Bradley, Marion (Hrsg.) - Magische Geschichten 14 - Silberschwester_L2_split_018.htm
Zimmer Bradley, Marion (Hrsg.) - Magische Geschichten 14 - Silberschwester_L2_split_019.htm
Zimmer Bradley, Marion (Hrsg.) - Magische Geschichten 14 - Silberschwester_L2_split_020.htm
Zimmer Bradley, Marion (Hrsg.) - Magische Geschichten 14 - Silberschwester_L2_split_021.htm
Zimmer Bradley, Marion (Hrsg.) - Magische Geschichten 14 - Silberschwester_L2_split_022.htm
Zimmer Bradley, Marion (Hrsg.) - Magische Geschichten 14 - Silberschwester_L2_split_023.htm
Zimmer Bradley, Marion (Hrsg.) - Magische Geschichten 14 - Silberschwester_L2_split_024.htm
Zimmer Bradley, Marion (Hrsg.) - Magische Geschichten 14 - Silberschwester_L2_split_025.htm
Zimmer Bradley, Marion (Hrsg.) - Magische Geschichten 14 - Silberschwester_L2_split_026.htm
Zimmer Bradley, Marion (Hrsg.) - Magische Geschichten 14 - Silberschwester_L2_split_027.htm
Zimmer Bradley, Marion (Hrsg.) - Magische Geschichten 14 - Silberschwester_L2_split_028.htm
Zimmer Bradley, Marion (Hrsg.) - Magische Geschichten 14 - Silberschwester_L2_split_029.htm
Zimmer Bradley, Marion (Hrsg.) - Magische Geschichten 14 - Silberschwester_L2_split_030.htm
Zimmer Bradley, Marion (Hrsg.) - Magische Geschichten 14 - Silberschwester_L2_split_031.htm
Zimmer Bradley, Marion (Hrsg.) - Magische Geschichten 14 - Silberschwester_L2_split_032.htm
Zimmer Bradley, Marion (Hrsg.) - Magische Geschichten 14 - Silberschwester_L2_split_033.htm
Zimmer Bradley, Marion (Hrsg.) - Magische Geschichten 14 - Silberschwester_L2_split_034.htm
Zimmer Bradley, Marion (Hrsg.) - Magische Geschichten 14 - Silberschwester_L2_split_035.htm
Zimmer Bradley, Marion (Hrsg.) - Magische Geschichten 14 - Silberschwester_L2_split_036.htm
Zimmer Bradley, Marion (Hrsg.) - Magische Geschichten 14 - Silberschwester_L2_split_037.htm
Zimmer Bradley, Marion (Hrsg.) - Magische Geschichten 14 - Silberschwester_L2_split_038.htm
Zimmer Bradley, Marion (Hrsg.) - Magische Geschichten 14 - Silberschwester_L2_split_039.htm
Zimmer Bradley, Marion (Hrsg.) - Magische Geschichten 14 - Silberschwester_L2_split_040.htm
Zimmer Bradley, Marion (Hrsg.) - Magische Geschichten 14 - Silberschwester_L2_split_041.htm
Zimmer Bradley, Marion (Hrsg.) - Magische Geschichten 14 - Silberschwester_L2_split_042.htm
Zimmer Bradley, Marion (Hrsg.) - Magische Geschichten 14 - Silberschwester_L2_split_043.htm
Zimmer Bradley, Marion (Hrsg.) - Magische Geschichten 14 - Silberschwester_L2_split_044.htm
Zimmer Bradley, Marion (Hrsg.) - Magische Geschichten 14 - Silberschwester_L2_split_045.htm
Zimmer Bradley, Marion (Hrsg.) - Magische Geschichten 14 - Silberschwester_L2_split_046.htm
Zimmer Bradley, Marion (Hrsg.) - Magische Geschichten 14 - Silberschwester_L2_split_047.htm
Zimmer Bradley, Marion (Hrsg.) - Magische Geschichten 14 - Silberschwester_L2_split_048.htm
Zimmer Bradley, Marion (Hrsg.) - Magische Geschichten 14 - Silberschwester_L2_split_049.htm
Zimmer Bradley, Marion (Hrsg.) - Magische Geschichten 14 - Silberschwester_L2_split_050.htm
Zimmer Bradley, Marion (Hrsg.) - Magische Geschichten 14 - Silberschwester_L2_split_051.htm
Zimmer Bradley, Marion (Hrsg.) - Magische Geschichten 14 - Silberschwester_L2_split_052.htm
Zimmer Bradley, Marion (Hrsg.) - Magische Geschichten 14 - Silberschwester_L2_split_053.htm
Zimmer Bradley, Marion (Hrsg.) - Magische Geschichten 14 - Silberschwester_L2_split_054.htm
Zimmer Bradley, Marion (Hrsg.) - Magische Geschichten 14 - Silberschwester_L2_split_055.htm
Zimmer Bradley, Marion (Hrsg.) - Magische Geschichten 14 - Silberschwester_L2_split_056.htm
Zimmer Bradley, Marion (Hrsg.) - Magische Geschichten 14 - Silberschwester_L2_split_057.htm
Zimmer Bradley, Marion (Hrsg.) - Magische Geschichten 14 - Silberschwester_L2_split_058.htm